Interview mit Cheyenne Blue zum Thema Afantasie
Erzähl uns doch bitte zunächst einmal etwas über deine Romane! Wie viele Bücher über frauenliebende Frauen hast du bisher geschrieben, und worum geht es in deinem neuesten Roman?
Ich bin Autorin von zehn Liebesromanen und Novellen, von denen sechs auch auf Deutsch erschienen sind.
Mein neuester Roman ist Gemeinsam auf den Wellen, in dem es um Krankenschwester Stevie geht, die nach einer Yachtparty plötzlich auf offener See aufwacht, als blinde Passagierin auf dem Schiff von Umweltaktivistin Kaz. Als sich Kaz weigert, sie zurück an Land zu bringen, fliegen anfangs die Funken. Aber schon bald sind sie gezwungen, zusammenzuarbeiten…
Welche mentalen Sinnesmodalitäten sind bei dir von der Afantasie betroffen? Handelt es sich nur um das bildliche Vorstellungsvermögen oder sind Geräusche/Stimmen, Geschmack, Geruch und Berührung ebenfalls betroffen?
Das Fehlen visueller Bilder fällt mir am meisten auf. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nur Dunkelheit, aber ich kann mich auch nicht an Geschmack, Geruch und Berührung erinnern. Geräusche? Nun, ich habe wie die meisten Menschen ab und zu einen Ohrwurm und singe oft Lieder in meinem Kopf. Ich habe allerdings sehr wenig darüber gelesen, deshalb bin ich mir nicht sicher, ob meine Fähigkeit, AC/DC in meinem Kopf mitzusingen, daher rührt, dass ich das Lied höre, oder weil ich ein gutes Gedächtnis und einen inneren Monolog habe.
Hast du eine innere Stimme oder einen inneren Monolog?
Ja, habe ich, wenn auch nicht die ganze Zeit – das wäre ja auch sehr anstrengend. Aber ich plane meinen Tag, führe Selbstgespräche und formuliere in meinem Kopf manchmal die Worte „Ich muss Milch kaufen.“
Erinnerst du dich daran, wie du erfahren hast, dass du Afantasie hast? Bedauerst du, dass dir eine Fähigkeit fehlt, die die meisten Menschen besitzen?
Ich hatte keine Ahnung, dass Menschen tatsächlich Dinge in ihrem Kopf sehen können. Darüber wird nicht gesprochen. Wir gehen davon aus, dass wir alle gleich sind.
In der Vergangenheit habe ich versucht zu meditieren, und es lief immer gleich ab. Ich setzte mich bequem hin, schloss meine Augen und die geführte Meditation sagte: „Stell dir vor, du bist an einem Strand.“ Ich sehe nichts, aber mein innerer Monolog sagt: „Okay, es ist ein Strand mit weißem Sand, einem türkisfarbenen Meer, sanften Wellen, die ans Ufer spülen. Der Strand ist geschwungen und wird von Palmen gesäumt. Vor mir liegen ein paar Felsen entlang der Uferlinie.“ Nach ein paar Minuten, als die Meditationsleiterin mich aufforderte, tiefer in die Strandszene einzutauchen, beschloss ich, dass es sinnlos war, und hörte auf. Ich merkte, dass ich mir nur selbst eine Szene mit Worten beschrieben hatte.
Vor etwa drei oder vier Jahren stieß ich zufällig auf einen Artikel über Afantasie und war verblüfft, dass Menschen tatsächlich Bilder in ihrem Kopf sehen können. Damals wurde mir klar, dass meine Erfahrung anders war.
Ich bin weit davon entfernt, zu bedauern, dass ich nicht in der Lage bin, Dinge vor meinem inneren Auge zu sehen, sondern ich bin froh, dass ich es nicht kann. Ich liebe die Stille in meinem Kopf. Ich mag es, wenn ich einfach nur vor mich hinstarren und einen Baum beobachten kann, der sich im Wind wiegt, ohne dass andere Gedanken oder Bilder auf mich einströmen.
Obwohl ich mir Szenen oder Bilder nicht vorstellen oder ins Gedächtnis rufen kann, bin ich völlig unfähig, mir Horrorfilme oder Filme mit Gewalt im Fernsehen anzusehen (ich verstecke mich hinter einem Kissen!). Anstatt mich an die Bilder zu erinnern, habe ich ein Gefühl des lähmenden Schreckens. Katastrophenfilme sind am schlimmsten, also Menschen zu sehen, die im Angesicht ihres drohenden Untergangs gefangen sind. Ich bin so froh, dass ich keine visuelle Erinnerung an solche Dinge habe.
Wie beeinflusst Afantasie dein Leben, sowohl im Guten wie auch im Schlechten?
Ich liebe es, Zeit in der Natur zu verbringen. Am glücklichsten bin ich an unbesiedelten Orten. Dort kann ich meinen Kopf frei bekommen und kann die Vögel beobachten, die Bäume, die Art, wie die Sandkörner eine Düne hinunterwehen. Meine Erinnerungen an Lieblingsorte beruhen eher auf Worten als auf Bildern.
Ich lebe hauptsächlich in der Gegenwart, was ich positiv finde. Das bedeutet auch, dass ich Orte nur selten vermisse, wenn ich sie verlassen habe. Ich habe in meinem Leben an einigen erstaunlichen Orten gelebt, und bevor ich sie verlasse, bin ich immer traurig, weil ich denke, dass ich sie vermissen werde. Aber nachdem ich weggefahren bin, vermisse ich sie nie – ich bin zu sehr damit beschäftigt, einen neuen Ort zu erleben, obwohl ich gern an frühere Orte zurückdenke. Ich halte mich für einen wirklich glücklichen Menschen, und ich denke, dass das Leben im Hier und Jetzt viel damit zu tun hat.
Wie beeinflusst Afantasie deiner Meinung nach dein Schreiben? Hast du das Gefühl, dass sich dein Schreibprozess von dem anderer Schreibender unterscheidet, die keine Afantasie haben?
Kürzlich habe ich erfahren, dass die Figuren mancher Autoren mit ihnen sprechen und dass der Schreibprozess einfach die Transkription eines Films in ihrem Kopf ist. Wahnsinn. Einfach nur wow.
Es fällt mir nicht leicht, meinen Schreibprozess zu beschreiben. Ich sehe die Figuren jedenfalls nicht, und mein innerer Monolog ist still, wenn ich schreibe. Am ehesten kann ich ihn als eine automatische Verbindung zwischen Gehirn und Tastatur beschreiben, bei der sehr wenig bewusste Verarbeitung stattfindet. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum meine ersten Entwürfe so furchtbar sind. Zum Glück gibt es das Lektorat.
Wie beeinflusst Afantasie dein Lesevergnügen? Liest du gern Belletristik? Hörst du beim Lesen eine Stimme, z. B. eine Erzählerin, die Figuren oder deine eigene innere Stimme? Fällt es dir schwer, lange Beschreibungen zu lesen?
Ich lese liebend gern und bin schon seit meiner Kindheit eine Leseratte. Ich lese sehr schnell. Wie beim Schreiben kann ich nicht genau erklären, wie ich das Lesen erlebe. Ich höre weder meine innere Stimme, noch die eines Erzählers. Die Worte gelangen wie durch Osmose von der Seite in meinen Kopf. Ich kann mich nicht bewusst daran erinnern, wie sie dorthin gelangen. Sie tun es einfach. Ich habe versucht, bewusst darauf zu achten, was beim Lesen passiert, aber ich kann es nie genau sagen.
Das gilt fürs Lesen zum Vergnügen. Wenn ich meine Manuskripte korrekturlese, gehe ich viel langsamer vor, und ich entscheide mich bewusst dafür, meine innere Stimme die Worte sprechen zu lassen. Wenn ich in den Modus „Lesen zum Vergnügen“ verfalle (und das tue ich manchmal), dann entgehen mir Fehler. Wenn ich für die Arbeit lese, mache ich sehr häufig Pausen, um mich zu erholen.
Ich lese lieber, als mir einen Film anzusehen. Und Pornos? Visuelle Pornos sind nichts für mich. Ich bevorzuge immer das geschriebene Wort.
Fällt es dir schwer, Beschreibungen zu verfassen, und musst du dich bewusst daran erinnern, beschreibende Details in deine Romane einzubauen?
Nein! Ich liebe Beschreibungen, sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben. Beim Überarbeiten entferne ich oft überflüssige Beschreibungen, weil sie die Geschichte ausbremsen. Es ist, als ob ich meinen Mangel an Visualisierung kompensieren würde.
Interessanterweise habe ich gelesen, dass Menschen mit Afantasie oft nur wenige Beschreibungen in ihren Texten verwenden. Ein Kompliment, das ich immer für meine Romane bekomme, ist, dass der Schauplatz der Geschichte fast eine weitere Hauptperson ist und dass die Umgebung so lebhaft beschrieben wird, dass sie die LeserInnen anzieht und ihnen das Gefühl gibt, mit den Figuren dort zu sein.
Gibt es Hilfsmittel, die du beim Schreiben verwendest, um deine mangelnde visuelle Vorstellungskraft zu kompensieren, z. B. Karten, Grundrisse, Fotos von Prominenten, die deinen Charakteren ähneln, usw.?
Ich finde immer Fotos, die meine Hauptfiguren darstellen. Manchmal sind es Berühmtheiten, häufiger aber Friseurmodelle. Webseiten über Frisuren wie „Fünfzig Frisuren für Frauen um die dreißig“ sind dafür Gold wert. Ich hänge sie an eine Pinnwand und schaue sie beim Schreiben oft an. Ich schreibe auch ausführliche Charakterbeschreibungen und behalte sie in der Nähe, um Details nachzuschlagen.
Was die Schauplätze meiner Romane angeht, so lasse ich diese immer an einem Ort spielen, den ich sehr gut kenne. Ich kann die Stadt an einen anderen Ort verlegen oder ihr einen neuen Namen geben, aber wenn ich einen Ort wähle, den ich gut kenne, ist es einfacher, ihn konsistent zu beschreiben. Oft wohnen meine Hauptfiguren auch in einem Haus, das ich gut kenne. So vermeide ich, dass mitten in der Geschichte das Badezimmer plötzlich woanders liegt oder das Haus plötzlich einen Balkon bekommt.
Außerdem schreibe ich am liebsten, wenn ich an dem Ort bin, an dem die Geschichte spielt. Deshalb spielen alle meine Geschichten in Australien. Es wäre extrem schwierig für mich, eine Geschichte in Colorado oder Irland anzusiedeln – nicht nur wegen der Beschreibungen des Schauplatzes, sondern auch wegen der Art und Weise, wie die Menschen sprechen, z.B. Vokabular, Sprachmuster, etc.
Musst du dich beim Schreiben daran erinnern, dass sich das Innenleben deiner Figuren von deinem unterscheidet, z.B. dass deine Charaktere Dinge vor dem inneren Auge sehen?
Nein, das ist einfach: „Ein Bild von Mary entstand vor ihrem inneren Auge.“ Das ist in so vielen Büchern, die ich gelesen habe, der Standard. Ich dachte immer, es sei nur eine Redewendung.
Wie geht es dir mit Sexszenen? Hast du das Gefühl, dass Afantasie einen Einfluss auf deine Fähigkeit hat, erotische oder sinnliche Szenen zu schreiben?
Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht, obwohl ich natürlich auch schon mal versehentlich einer Figur drei Hände gegeben oder ihre Socken angelassen habe.
Träumst du in Bildern, und hast du jemals von deinen Charakteren geträumt?
Ich habe sehr lebhafte, farbenfrohe Träume, obwohl ich während des Traums in der Regel weiß, dass ich träume. Manchmal kann ich auch aus dem Traum erwachen. Ich habe allerdings noch nie von einer Figur geträumt. Von berühmten Persönlichkeiten oder Menschen, die ich kenne, aber noch nie von Charakteren. Es sei denn, du zählst Captain Janeway dazu.
Wo können dich LeserInnen finden, wenn sie mehr über dich und deine Bücher erfahren möchten?
Meine ins Deutsche übersetzten Romane findet ihr auf der Webseite des Ylva Verlags. Wer auch auf Englisch liest, kann gern auch meine Webseite besuchen oder meinen Newsletter abonnieren.
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