Jae

Autorin lesbischer Liebesromane mit Herz

 

​Interview zum Thema Afantasie mit Chris Zett

 

Erzähl uns doch bitte zunächst einmal etwas über deine Romane! Wie viele Bücher über frauenliebende Frauen hast du bisher geschrieben, und worum geht es in deinem neuesten Roman?

Ich habe zwei Liebesromane mit Ärztinnen geschrieben. Zu Herzen genommen ist mein neuestes Buch über eine viel zu schlecht gelaunte Kardiologin (und frischgebackene Mutter), die auf eine viel zu gutherzige Künstlerin trifft. Zunächst geraten sie auf vielen Ebenen aneinander, bis sie herausfinden, dass sich Gegensätze tatsächlich anziehen.

 

Welche mentalen Sinnesmodalitäten sind bei dir von der Afantasie betroffen? Handelt es sich nur um das bildliche Vorstellungsvermögen oder sind Geräusche/Stimmen, Geschmack, Geruch und Berührung ebenfalls betroffen?

Alles. Das, was für mich dem „Normalen“ am nächsten kommt, sind wahrscheinlich die Töne: Ich „höre“ Worte und Lieder, aber es ist nicht genau so, als würde ich sie live hören. Der Unterschied ist schwer zu beschreiben. Es ist ein bisschen so, als würde ich ein Lied nachsingen, aber mit perfekter Stimmenimitation, aber auch ein wenig so, als ob ich die Töne/Stimmen durch einen Filter höre. Woran ich mich am besten erinnere und was ich wieder erleben kann, sind meine Gefühle. Anstatt also einen romantischen Sonnenuntergang vor meinem geistigen Auge zu sehen, weiß ich nur, dass er orange und rot war und der Sand erfrischend kühl, aber ich fühle das gleiche Glück.

 

Hast du eine innere Stimme oder einen inneren Monolog?

Oh ja. Ich führe ständig Selbstgespräche, und wenn ich das tue, verwende ich meist die zweite Person Singular. Wenn ich zum Beispiel das Haus verlasse, würde ich denken: „Hast du das Licht ausgeschaltet?“ und nicht „Habe ich das Licht ausgeschaltet?“

Witzigerweise hat meine innere Stimme keine Probleme jeden Dialekt zu imitieren oder akzentfrei Englisch zu sprechen (auch jeweils mit regionalen Dialekten wie zum Beispiel Schottisch). Was tatsächlich aus meinem Mund herauskommt ist eine ganz andere Sache.

 

Erinnerst du dich daran, wie du erfahren hast, dass du Afantasie hast? Bedauerst du, dass dir eine Fähigkeit fehlt, die die meisten Menschen besitzen?

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich davon erfahren habe (ich glaube, du [Jae] hast mir davon erzählt), aber es ist erst ein paar Jahre her. Nachdem ich etwas mehr über Afantasie gelesen hatte, begann ich, Freunde und Kollegen zu befragen, und war überrascht, wie selten sie ist. Ich dachte immer, „einen Film im Kopf sehen“ sei nur eine Redewendung und für die meisten anderen Menschen keine Realität.

Ich trauere überhaupt nicht, weil ich nicht das Gefühl habe, dass mir etwas in meinem Leben fehlt. Auch wenn ich das Bild einer Landkarte nicht mehr vor Augen habe, weiß ich immer noch, was sich wo auf der Karte befindet (auch wenn meine Frau mir das nicht immer glaubt).   Obwohl ich ein Lied nicht höre, erkenne ich es trotzdem wieder, wenn es im Radio gespielt wird. Ich habe ständig Ohrwürmer im Kopf, nur auf eine andere Art und Weise.

Ich denke sogar, dass eine zu lebhafte Erinnerung ablenkend sein könnte.

 

Wie beeinflusst Afantasie dein Leben, sowohl im Guten wie auch im Schlechten?

Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich glaube, dass die fehlende Fähigkeit, Sinneserfahrungen in meinem Kopf zu reproduzieren, zur Entwicklung meiner Kreativität beigetragen hat. Wenn ich einen Film „sehen“ und vor allem fühlen will, muss ich ihn mit Worten erfinden.

 

Wie beeinflusst Afantasie deiner Meinung nach dein Schreiben? Hast du das Gefühl, dass sich dein Schreibprozess von dem anderer Schreibender unterscheidet, die keine Afantasie haben?

Ein wichtiger Unterschied zu Leser:innen und Autor:innen ohne Afantasie besteht darin, dass mir das Aussehen einer Figur nicht wirklich wichtig ist. Allgemeine Beschreibungen (groß, kurze dunkle Haare, kurvig) reichen mir aus. Mehr brauche ich nicht, und ich stelle mir nie Schauspielerinnen oder andere Menschen als diese Figuren vor. Das bedeutet auch, dass ich mit den meisten Buch-Covern, auf denen Personen abgebildet sind, oder Besetzungen von Buch-Verfilmungen kein Problem habe. Immer wenn ich eine Figur erschaffe, muss ich daran denken, diese Details zu erwähnen und sie irgendwo zu notieren, wo ich sie wiederfinden kann.

In meinem letzten Buch habe ich es mit den detaillierten Beschreibungen etwas übertrieben, bis meine Lektorin mich darauf hinwies. Ich wusste nicht mehr, was wirklich nötig war und was nicht.

Die Stimmen zu beschreiben ist für mich wichtiger, nicht der genaue Klang, sondern der Sprachrhythmus und wie sie das eine oder andere Wort betonen. Oft „höre“ ich den Figuren in meinem Kopf beim „Sprechen“ zu und versuche, nicht nur die Worte, sondern auch die Betonungen und besonders die damit vermittelten Emotionen wiederzugeben. Wie ich bereits sagte, ist das nicht wirklich dasselbe wie Hören, aber näher dran als jede andere Sinneserfahrung.

 

Wie beeinflusst Afantasie dein Lesevergnügen? Liest du gerne Belletristik? Hörst du beim Lesen eine Stimme, z. B. eine Erzählerin, die Figuren oder deine eigene innere Stimme? Fällt es dir schwer, lange Beschreibungen zu lesen?

Ich liebe es, alle Arten von Büchern zu lesen. Oft „höre“ ich die Figuren, aber eigentlich ist es meine innere Stimme, die die Worte spricht. Manchmal überspringe ich beschreibende Passagen, vor allem, wenn sie nur Teil des Weltenaufbaus sind, der für die Szene nicht notwendig ist, oder wenn es sich um übermäßig detaillierte Beschreibungen von Kleidung oder Gesichtern handelt.

Aber was ich am meisten genieße, sind die Emotionen. Ich fühle mit den Protagonisten. Ihre Ängste, Unsicherheit und Liebe sind für mich so real wie meine eigenen Gefühle. Deshalb lese ich am liebsten Liebesromane, da sie sich oft auf die emotionale Ebene konzentrieren.

 

Fällt es dir schwer, Beschreibungen zu verfassen, und musst du dich bewusst daran erinnern, beschreibende Details in deine Romane einzubauen?

Was ich über das Aussehen der Charaktere gesagt habe, gilt auch für den allgemeinen Szenenaufbau. Ich vergesse oft, Beschreibungen der Orte oder Kleidung zu schreiben. Entweder fällt es mir oder meinen Beta-Leser:innen bei der Überarbeitung auf, aber das ist eigentlich auch eine Stärke. Wann immer ich etwas einfüge, ist es eine bewusste Entscheidung, um etwas über die Charaktere zu zeigen oder eine Stimmung zu erzeugen, niemals eine zufällige Information, die ich in meinem Kopf „gesehen“ habe.

 

Gibt es Hilfsmittel, die du beim Schreiben verwendest, um deine mangelnde visuelle Vorstellungskraft zu kompensieren, z. B. Karten, Grundrisse, Fotos von Prominenten, die deinen Charakteren ähneln, usw.?

Ich mache mir viele Notizen und füge sie meinen Charakter- oder Einstellungsbögen hinzu. Aber ich brauche keine Karten, Grundrisse oder Bilder, denn visuelle Hilfen helfen mir nicht so sehr wie schriftliche Anweisungen.

 

Musst du dich beim Schreiben daran erinnern, dass sich das Innenleben deiner Figuren von deinem unterscheidet, z.B. dass deine Charaktere Dinge vor dem inneren Auge sehen?

Ja! Ich muss mich daran erinnern, dass sich meine Figuren tatsächlich an Gerüche und Berührungen erinnern und von sexy Bildern in ihrem Kopf gequält werden.

 

Wie geht es dir mit Sexszenen? Hast du das Gefühl, dass Afantasie einen Einfluss auf deine Fähigkeit hat, erotische oder sinnliche Szenen zu schreiben?

Ja und nein. Da keinen Film sehe, muss ich ein wenig mehr über die Choreographie nachdenken und mir merken, wo sich zum Beispiel welche Hand gerade befindet. Aber da es bei Liebesszenen eher um Emotionen gehen sollte, denke ich, dass wir alle die gleichen Probleme haben, diese zu vermitteln.

 

Träumst du in Bildern, und hast du jemals von deinen Charakteren geträumt?

Ich weiß nicht, ob ich visuell träume. Ich erinnere mich an meine Träume genauso wie an alles andere was ich erlebt habe, nicht als Film, sondern als eine Idee des Films. Ich wechsle in meinen Träumen oft zwischen der Rolle der Schauspielerin und der Regisseurin. Manchmal beschließe ich, zurückzuspulen und mehrere Szenen neu zu drehen. Ich habe von meinen Figuren und einigen ihrer Szenen geträumt, aber ich erinnere mich an diese Träume nicht besonders gut.

 

Wo können dich LeserInnen finden, wenn sie mehr über dich und deine Bücher erfahren möchten? 

Man kann mich auf Facebook, Instagram, und manchmal auf Twitter und seit kurzem auf Mastodon finden. Mein Newsletter ist wahrscheinlich der beste Ort für Schreib-Updates (und kostenlose Kurzgeschichten) und alles über meine veröffentlichten Arbeiten kann man auf meiner Website finden.

 

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