Interview mit Jae zum Thema Afantasie
Erzähl uns doch bitte zunächst einmal etwas über deine Romane! Wie viele Bücher über frauenliebende Frauen hast du bisher geschrieben, und worum geht es in deinem neuesten Roman?
Ich schreibe Liebesromane über frauenliebende Frauen und habe vor Kurzem meinen dreiundzwanzigsten Roman veröffentlicht. Kuscheln im Erbe inbegriffen ist ein Liebesroman, in dem es um die Macht platonischer Berührungen geht. Hannah ist professionelle Kuschlerin, die wie ich Afantasie hat. Gemeinsam mit Winter, einer kühlen Einzelgängerin, erbt sie ein Wohnhaus. Doch die Sache hat einen Haken: Bevor sie ihr Erbe antreten können, müssen sie zuerst zweiundneunzig Tage lang zusammenleben.
Welche mentalen Sinnesmodalitäten sind bei dir von der Afantasie betroffen? Handelt es sich nur um das bildliche Vorstellungsvermögen oder sind auch Geräusche/Stimmen, Geschmack, Geruch und Berührung ebenfalls betroffen?
Bei mir sind alle mentalen Sinne betroffen. Ich kann weder visualisieren noch Geschmack, Geruch oder Berührung innerlich reproduzieren.
Eine Zeit lang dachte ich, dass ich mir Geräusche vorstellen kann, weil ich ständig ein Lied im Kopf habe, aber dann habe ich gemerkt, dass ich weder die Stimme der SängerIn noch irgendwelche Instrumente höre. Es ist eher so, als würde ich beides selbst nachahmen, ohne dabei meine Stimme zu hören. Es ist schwer zu erklären. Offensichtlich habe ich gelernt, meinen inneren Monolog zu benutzen, um mir selbst vorzugaukeln, dass ich in meinem Kopf Musik hören kann. Das Gleiche gilt für andere Geräusche. Ich dachte, ich könnte zum Beispiel das Bellen eines Hundes mental erzeugen, aber in Wirklichkeit macht nur mein innerer Monolog „wuff-wuff“. Es klingt weder wie ein echter Hund noch wie meine Stimme. Es ist lediglich ein tonloses Wort in meinem Kopf.
Die einzige Art von Vorstellungskraft, die ich habe, ist räumlich. Ich kann mir eine Bewegung vorstellen, aber nicht bildlich. Manchmal benutze ich sie, um mentale Bilder zu ersetzen, z.B. wenn ich mir einen Regenbogen vorstellen soll, erzeuge ich eine mentale Bogenbewegung, indem ich mir vorstelle, dass ich meine Augen in einem Bogen bewege.
Hast du eine innere Stimme oder einen inneren Monolog?
Ich führe zwar einen inneren Monolog, aber ich würde ihn nicht als innere Stimme bezeichnen, da er nicht mit einem inneren Klang verbunden ist. Ich denke in Worten, aber ich „höre“ sie nicht in meinem Kopf. Mein innerer Monolog hat keinen Ton, und ich kann ihn nicht flüstern, wie eine Berühmtheit klingen oder mit einem Akzent sprechen lassen.
Erinnerst du dich daran, wie du erfahren hast, dass du Afantasie hast? Bedauerst du, dass dir eine Fähigkeit fehlt, die die meisten Menschen besitzen?
Ich habe immer gewusst, dass ich keine mentalen Bilder erzeugen kann, aber ich dachte, dass das niemand wirklich kann; dass „sich einen Apfel vorstellen“ nur eine andere Art ist, zu sagen „an einen Apfel denken“ und nicht, dass die Leute tatsächlich einen Apfel vor ihrem geistigen Auge sehen!
Das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass der Verstand anderer Menschen anders funktioniert, war während meines Psychologiestudiums. All diese geführten Meditationen und Entspannungsübungen („Stellen Sie sich einen Strand vor; spüren Sie den warmen Sand unter Ihren Füßen…“) waren für mich unendlich nervig, weil ich nichts „sehen“, „hören“ oder „fühlen“ konnte. Ich konnte mir eine Liste von Wörtern ausdenken, die ich mit einem Strand verbinde, aber das war’s auch schon.
Ich habe viel länger gebraucht, um herauszufinden, dass andere Menschen nicht nur Bilder in ihrem Kopf erschaffen können; die meisten können sich auch Geschmack, Geruch und Berührung vorstellen. Das habe ich erst entdeckt, als ich mich mit den LeserInnen in meiner Facebook-Gruppe über Afantasie unterhielt und sie mir sagten, dass sie die Gerichte, die ich in meinen Büchern beschreibe, tatsächlich schmecken können!
Ich habe nie eine Phase der Trauer durchgemacht, weil ich nicht das Gefühl hatte, etwas verloren zu haben. Afantasie zu haben, ist für mich völlig normal, und obwohl ich gern einmal einen Tag lang eine innere Welt ohne Afantasie erleben würde, nur um zu sehen, wie es wäre, mag ich mein eigenwilliges Gehirn so, wie es ist.
Wie beeinflusst Afantasie dein Leben, sowohl im Guten wie auch im Schlechten?
Ich habe all die Probleme, die oft mit Afantasie in Verbindung gebracht werden: Ich habe einen schrecklichen Orientierungssinn und verlaufe mich leicht, selbst an Orten, die mir vertraut sind. Es fällt mir schwer, Gesichter zu erkennen – ich wohne seit 8 Jahren in derselben Wohnung und würde dennoch nicht alle meine Nachbarn wiedererkennen, wenn ich sie an einem anderen Ort und aus dem Zusammenhang gerissen treffen würde. In Kuscheln im Erbe inbegriffen gibt es eine Szene, in der Hannah (die Hauptfigur mit Afantasie) Probleme hat, zwei Schauspielerinnen in einer Fernsehsendung auseinanderzuhalten, und dasselbe Problem habe ich oft auch.
Ich habe auch ein schlechtes autobiografisches Gedächtnis. Ich weiß, dass bestimmte Dinge in meinem Leben passiert sind, z.B. dass ich mir den Arm beim Skateboardfahren gebrochen habe, als ich zwölf war, aber da es keine Bilder, keine Geräusche, keine körperlichen Empfindungen gibt, die ich wiedergeben kann, erinnere ich mich nicht an die Details.
Der Vorteil von Afantasie ist für mich, dass sie es einfacher macht, im Hier und Jetzt zu leben und jeden Moment zu genießen. Ich hege keinen Groll; ich kann leicht Dinge hinter mir lassen und bin glücklich mit dem Leben, das ich habe, anstatt von der Zukunft zu träumen oder der Vergangenheit nachzuhängen.
Wie beeinflusst Afantasie deiner Meinung nach dein Schreiben? Hast du das Gefühl, dass sich dein Schreibprozess von dem anderer Schreibender unterscheidet, die keine Afantasie haben?
Die meisten meiner SchriftstellerkollegInnen beschreiben, dass sie ihre Geschichten wie in einem Film sehen und/oder die Figuren sprechen hören. Bei mir ist das nicht der Fall. Für mich ist das Schreiben ein eher bewusster, aktiver Prozess. Mein Denken basiert ausschließlich auf Wörtern, was es einerseits vielleicht einfacher macht, weil es kein „Übersetzen“ von Bildern in Worte gibt. Andererseits macht es das Schreiben zu einer eher kognitiven, weniger sinnlichen Erfahrung. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass ich langsam schreibe. Beim Schreiben muss ich sehr genau überlegen, was bedeutet, dass ich nicht 1.000 oder mehr Wörter pro Stunde schreiben kann, aber am Ende habe ich sehr saubere erste Entwürfe. Ich verbringe viel Zeit damit, meine Figuren zu entwickeln, erstelle Charakterprofile für sie und lerne sie gut kennen, bevor ich mit dem Schreiben beginne, denn beim Schreiben geht es mir um die Figuren, ihre Gefühle und ihre Beziehungen.
Wie beeinflusst Afantasie deine Freude am Lesen? Liest du gerne Belletristik? Hörst du beim Lesen eine Stimme, z. B. eine Erzählerin, die Figuren oder deine eigene innere Stimme? Fällt es dir schwer, lange Beschreibungen zu lesen?
Ich habe schon immer gern und viel gelesen. Ich sehe beim Lesen zwar keinen Film vor meinem inneren Auge oder höre auch keinen Erzähler oder die Stimmen der Figuren, aber das brauche ich auch nicht, um einen Roman zu genießen. Ich lese wegen anderer Dinge – wegen der Emotionen, der Figuren und ihres inneren Erlebens, wegen des Geplänkels und der witzigen Dialoge, der Art und Weise, wie die beiden Figuren in einer Liebesgeschichte langsam Vertrauen aufbauen und sich einander öffnen. All das erfordert keine Visualisierung. Die Figuren oder die Umgebung von außen zu sehen oder sie reden zu hören, ist eine Erfahrung, die ich in Filmen und Fernsehsendungen machen kann. Wenn ich lese, möchte ich in die Gedankenwelt der Figuren eintauchen und ihre Gedanken und Gefühle miterleben.
In Büchern von Autorinnen, die ihr Handwerk verstehen und Beschreibungen sinnvoll einzusetzen wissen, habe ich keine Probleme mit beschreibenden Passagen. Aber wenn eine AutorIn über zwei Seiten etwas beschreibt, was man mit „Sie hatte einen Garten mit vielen Blumen“ zusammenfassen könnte, fange ich an, Absätze zu überfliegen oder zu überspringen und dort weiterzulesen, wo der Dialog wieder einsetzt.
Fällt es dir schwer, Beschreibungen zu verfassen, und musst du dich bewusst daran erinnern, beschreibende Details in deine Romane einzubauen?
Nein, ganz und gar nicht. Beschreibungen lassen zwar keine Bilder in meinem Kopf entstehen, aber ich möchte wissen, wie die Wohnungen meiner Figuren oder die Orte, die sie besuchen, aussehen. Für mich rufen Beschreibungen Emotionen hervor, und sie verraten uns mehr über die Figuren. Hannah aus Kuscheln im Erbe inbegriffen besitzt zum Beispiel ein Dutzend mangofarbener Kissen, während Winter sich nur in Schwarz, Grau, Weiß und Dunkelblau kleidet. Vor meinem geistigen Auge sehe ich das alles nicht, aber diese Details verraten etwas über die Persönlichkeit der Figuren.
Ich denke, im Vergleich zu anderen AutorInnen bin ich wählerischer bei der Auswahl der beschreibenden Details, die ich einfüge. Sie müssen eine Bedeutung haben und ich webe sie in die Geschichte ein und mache sie zu einem Teil der Erfahrung der Charaktere, anstatt die Handlung durch ausschweifende Beschreibungen zu unterbrechen.
Gibt es Hilfsmittel, die du beim Schreiben verwendest, um deine mangelnde visuelle Vorstellungskraft zu kompensieren, z. B. Karten, Grundrisse, Fotos von Prominenten, die deinen Charakteren ähneln, usw.?
Ich erstelle Grundrisse für die Wohnungen meiner Hauptfiguren und schaue sie mir beim Schreiben ständig an, sonst würde ich die Einrichtung nicht einheitlich beschreiben, weil ich kein Bild davon im Kopf habe.
Ich fülle für jede Figur ein Profil aus, das ihre Größe, ihren Körperbau, ihre Haar- und Augenfarbe und andere Details über ihr Aussehen enthält, aber ich verwende normalerweise keine Fotos und besetze meine Figuren nicht mit Prominenten. Die meisten meiner Figuren sind ganz normale Menschen. Für ihre Partnerinnen sind sie natürlich wunderschön, aber sie sehen nicht alle wie Schauspielerinnen oder Models aus. Ihre Persönlichkeiten sind für mich viel wichtiger als ihr Aussehen. Ich möchte, dass sie sich ineinander verlieben, weil sie so sind, wie sie sind, und nicht (nur), weil sie unglaublich attraktiv sind.
Musst du dich beim Schreiben daran erinnern, dass sich das Innenleben deiner Figuren von deinem unterscheidet, z.B. dass deine Charaktere Dinge vor dem inneren Auge sehen?
Nein, ganz und gar nicht. In ziemlich allen Büchern, die ich je gelesen habe, geht es um Figuren, die keine Afantasie haben. Deshalb habe ich schon tausendmal Beschreibungen von mentalen Bildern oder Stimmen gelesen, die den Figuren durch den Kopf gehen.
Ganz automatisch habe ich das auch in meine Bücher einfließen lassen. Als ich aus der Sicht von Hannah (meiner Hauptfigur mit Afantasie) schrieb, musste ich mich sogar daran erinnern, Sätze wie „Fünf Stunden später hallten Winters Worte immer noch durch ihren Kopf“ zu vermeiden. Das war eine überraschende Entdeckung!
Wie geht es dir mit Sexszenen? Hast du das Gefühl, dass Afantasie einen Einfluss auf deine Fähigkeit hat, erotische oder sinnliche Szenen zu schreiben?
Ich bin mir nicht sicher, ob das der Fall ist, um ehrlich zu sein, denn ich habe noch nie eine Liebesszene geschrieben, während ich sie in meinem Kopf als Film sah. Ich kann sagen, dass Liebesszenen für mich harte Arbeit sind, aber ich bin mir nicht sicher, ob es einfacher wäre, wenn ich die Figuren sehen oder hören würde. Ich konzentriere mich nicht auf die äußere Handlung, auch wenn ich natürlich darauf achte, wessen Hand sich gerade wo befindet, um sicherzustellen, dass alle Handlungen physisch möglich sind. Aber im Mittelpunkt der Liebesszenen, die ich schreibe, steht immer die innere Erfahrung der Figuren – was denken und fühlen sie, wenn sie einander berühren? Dafür brauche ich kein visuelles Vorstellungsvermögen.
Träumst du in Bildern, und hast du jemals von deinen Charakteren geträumt?
Meine Träume haben manchmal visuelle Elemente, aber wenn ich aufwache, kann ich diese Bilder nicht mehr sehen; ich erinnere mich nur noch daran, worum es in dem Traum ging. Oft weiß ich nur, wo ich im Traum bin oder mit wem ich zusammen bin, aber ich sehe diese Menschen und Orte nicht wirklich in meinem Traum. Der Fokus liegt mehr auf meinen Gefühlen als auf meiner Umgebung. In meinen Träumen verbringe ich viel Zeit damit, nachzudenken….und mich zu verirren. Das ist ein typischer Traum für mich, wenn ich gestresst bin, wahrscheinlich wegen meines schrecklichen Orientierungssinns.
Während ich an Kuscheln im Erbe inbegriffen gearbeitet habe, habe ich tatsächlich zweimal von Winter und Hannah geträumt. Nachdem ich bis 3 Uhr morgens geschrieben hatte, war es, als würde mein Gehirn einfach weiterschreiben, nachdem ich ins Bett gegangen war. Ich habe die Figuren in meinem Traum nicht gesehen oder gehört, aber sie waren da, und die Geschichte ging in meinem Kopf weiter. Leider wusste ich am nächsten Morgen nicht mehr, was ich im Traum geschrieben hatte!
Wo können dich LeserInnen finden, wenn sie mehr über dich und deine Bücher erfahren möchten?
Den Weg zu meiner Webseite hast du scheinbar bereits gefunden. Hier findest du all meine Romane sowie eine kostenlose Kurzgeschichte. Ich habe auch einen LeserInnen-Newsletter, wo ich über neue Veröffentlichungen auf dem Laufenden halte sowie Verlosungen und kostenlose Geschichten teile.
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Dieses Interview ist Teil einer Reihe zum Thema Afantasie. Weitere Interviews mit Autorinnen, die Afantasie haben, und Jaes Beitrag zum Thema Afantasie findest du hier.